Stefan Hermes, Universität Hamburg

Eine spätmoderne Tafelrunde, oder: Kleine Phänomenologie des Vereins

Der deutsche Verein hat seine eigenen Gesetze. Diese mögen von Fall zu Fall ein stählernes Gehäuse bilden, doch bleiben sie allemal selbst gegebene Gesetze, denen sich ein jedes Vereinsmitglied ganz und gar freiwillig fügt. Insofern ist ein paradoxes Zusammenspiel von Autonomie und Unterwerfung zu konstatieren, das sich indes nicht allein in der Struktur des einzelnen Vereins manifestiert. Seine Entsprechung findet es auf nationaler Ebene: Denn so unerbittlich das deutsche Vereinsrecht in formaler Hinsicht anmuten mag, so wenig beschränkt es letztlich den Charakter jener Aktivitäten, denen es seinen Schutz gewährt. Zu den in erfreulicher Vielzahl vorhandenen Kampf- und Schieß- und Wehrportvereinen konnten sich daher der Verein zur Förderung des Müßiggangs und der Verein zur Förderung des Ansehens der Blut- und Leberwürste gesellen, gesellte sich – endlich – auch das Vereinstheater Deutschland. Letzteres zählt fraglos zu jenen „künstlerischen oder literarischen Sekte[n]“, deren massenhafte Existenz den passionierten Kegelbruder Max Weber dazu veranlasste, den neuzeitlichen Menschen als „Vereinsmensch[en] in einem fürchterlichen, nie geahnten Maße“ zu bestimmen.

Und doch ist das Vereinstheater anders. Wo sein Wimpel aufgepflanzt wird, ist von der lauwarmen Zivilisierungs- und also Bürokratisierungsmission, wie sie der bizarren bürgerlichen Vereinsmeierei eigen ist, nichts zu spüren. Die Aufnahme in diesen Verein stellt keinen nüchternen Verwaltungsakt dar, sie ist ein – dankenswerterweise nicht-sodomitischer – rite de passage, ein irreversibler Übertritt auf zuvor unbekanntes soziales Terrain. Wo das Wappen des Vereinstheaters prangt, versammelt sich ein Orden. Ein anarchischer Orden freilich, dem Marienverehrung wie Totenkopfkult denkbar fern liegen und dessen Dienst am Gemeinwohl sich unmittelbar erschließt: Er verbindet das Paradox des Vereinswesens in spektakulärer Manier mit dem Paradox der Kunst, die ja ebenfalls der fest gefügten apollinischen Form bedarf – und zugleich ihrer rückhaltlosen Zertrümmerung durch den lärmenden Gott der Ekstase, Dionysos.

Kurz: Es gibt kein Vereinsheim, in das man sich zurückzieht und Skat kloppt und hofft, die Alte möge bereits friedlich schlummern, wenn man sich schließlich nach Hause schleicht. Der Stammtisch des Vereinstheaters steht überall, aber er ist kein Ort des behaglich-stupiden Beisammenseins. Hier begegnet man einer spätmodernen Tafelrunde, die fortwährend im Aufbruch begriffen ist, zu neuen ölverschmierten Ufern, vielleicht zu gigantischen Halden aus Wörtern und Schutt und Asche, auf der Suche nach Vergeltung und Schönheit. Auch die unlängst ins Leben gerufene Ping-Pong-Sparte wird womöglich keinen strahlenden Champion hervorbringen, und was die grotesk-clownesken Söldner des Heiligen Stuhls gelegentlich intonieren, gilt ebenso für die Mitglieder des Vereinstheaters: „Notre vie est un voyage / Dans l’hiver et dans la nuit, / Nous cherchons notre passage / Dans le ciel où rien ne luit.“ Und doch wird die Sonne abermals aufgehen, und sei es gleißend und grausam.