Zeit zum Suchen, Zeit zum Verlorengeben:
Gatsby und der lange Weg nach Garmisch
In einem Brief an den älteren Freund und Konkurrenten fegt Ernest Hemingway alle Zweifel an seinem Debütroman mit Gewalt beiseite: „The Sun Also Rises“ werde sich als „greater Gatsby“ erweisen und Fitzgeralds kurz zuvor erschienenes Jahrhundertwerk noch übertreffen. Obwohl der spätere Nobelpreisträger den Brief mit „Ernest M. Shit“ unterschreibt, haben wir es hier nicht nur mit dem für Hemingway typischen, testosteronbefeuerten Spott zu tun – was James Plath auf verblüffende Weise belegt. „The Sun Also Rises“ sei ursprünglich als Parodie, als Gegenentwurf zum „Großen Gatsby“ konzipiert gewesen. Am deutlichsten werde dies in der Figur des Robert Cohn, der Lady Brett die ganze zweite Romanhälfte über vergeblich hinterherläuft. Hemingway, so Plath, verhöhne Gatsby und dessen gescheiterte Gralssuche in geradezu bösartiger Manier.
Zur Erinnerung: Jay Gatsby baut sich auf Long Island einen Palast, den nur eine Meerenge vom Wohnsitz seiner Jugendliebe Daisy trennt. Woche für Woche veranstaltet er Abendgesellschaften, die es an Glanz und Verschwendungssucht mit jeder Party im ohnehin recht dekadenten „Jazz Age“, dem Amerika zwischen Erstem Weltkrieg und Großer Depression, aufnehmen können. Dabei macht er sich gar nichts aus Partys. Gatsby hofft lediglich, dass seine Nachbarin Daisy – mit dem Namen einer Blume und einer „Stimme voller Geld“ – einmal vorbeikommen und den neuen Reichtum des einst mittellosen jungen Mannes bestaunen möge. Sobald er dieses Ziel erreicht hat, ist es mit dem Feiern auch sofort vorbei, sämtliche Lichter werden gelöscht.
„Man kann die Vergangenheit nicht wiederholen? Natürlich kann man das!“ – Gatsbys Mission besteht in der Wiederholung einer fast vergessenen Geschichte. Eine nicht unwesentliche Tatsache blendet Fitzgeralds Held in seinem Eifer jedoch aus: Daisy, die sich ihm in jungen Jahren hingegeben hat, ist inzwischen verheiratet – mit einem de facto-aristokratischen Hooligan. Und selbst wenn es zwischendurch anders aussehen mag, würde sie nicht im Traum daran denken, für den Emporkömmling Gatsby ihre Ehe zu riskieren. Ganz ähnlich ergeht es Cohn in Hemingways Roman. Genau wie Jay Gatsby misst er seiner Liebe zu Lady Brett – und ihrer flüchtigen Zuneigung zu ihm – viel zu viel Bedeutung bei. Die Zahl der Rivalen ist beträchtlich, angesichts von Bretts Persönlichkeit und ihrem flamboyantem Lebensstil wirkt sein Kampf noch hoffnungsloser als Gatsbys, doch diese unangenehme Wahrheit wird von Cohn einfach ignoriert.
Der Erzähler Jake Barnes – oder Hemingway? – lässt Robert über weite Passagen als lächerliche Figur erscheinen. Seine Liebe ist so stark, dass er nicht einmal mehr Tennisspielen kann. „True love will conquer all“, lautet die Losung, die sich brandzeichengleich auf seiner Stirn abzeichnet, während er Lady Brett wie ein Ochse hinterhertrottet. Dummerweise wissen alle anderen Romanfiguren, dass Cohn einer großen, gefährlichen Illusion aufgesessen ist. „Wahre“ Liebe wird sich am Ende eben nicht durchsetzen, eher wird Brett den Bankrotteur Mike heiraten oder keusch an der Seite des impotenten Jake auf dem Land leben. Der blinde Robert wird so zu einer erbärmlichen Gatsby-Karikatur, der Hemingway einen vermeintlich „maskulinen“ Gegenentwurf gegenüberstellt: Der körperlich und emotional verkrüppelte Invalide Jake ist zwar keinesfalls glücklicher als Robert, bewahrt jedoch stets eine coole Fassade – wenn er nicht mal wieder nachts, bei brennendem Licht, in sein Kissen weint. Während alle Welt denkt, Jake käme schon irgendwie über die Runden, ist sein Zustand in Wahrheit suizidal. Anders als Cohn kehrt er seine Misere aber fast nie nach außen. Dem höllischen Realismus ihrer Umgebung – in Person von Jake bzw. Daisys Mann Tom Buchanan – begegnen Cohn und Gatsby mit einem romantischem Idealismus, der verzweifelt darauf vertraut, dass die Dinge nicht so bleiben, wie sie sind. Bis an die Grenze zur Borniertheit fallen sie ihrer Umwelt auf die Nerven und geraten dabei zwangsläufig unter die Räder. Gatsbys Gralssuche endet mit seinem gewaltsamen Tod.
Wenn wir von diesen beiden Rittern von der traurigen Gestalt sprechen, sprechen wir auch über soziale Außenseiter. Gatsbys Reichtum speist sich aus dubiosen Quellen, seinen gesellschaftlichen Aufstieg hat er dem Alkoholschmuggel in Prohibitionszeiten zu verdanken. Er trägt pinkfarbene Anzüge. Cohn ist Jude, was ihn die anderen Romanfiguren in beinahe jeder Szene spüren lassen. Und Robert aus „The Sun Also Rises in Berlin“ – um schließlich den Bogen zum Theaterstück zu schlagen –, ist Skilehrer. Aus Garmisch-Partenkirchen. Willkommen in Berlin, möchte man da ein wenig boshaft sagen. Doch nicht seine provinzielle Herkunft drängt ihn sofort an den Rand: Inmitten eines Zirkels unübersehbar beschädigter Menschen, an denen auch ohne Kriegsverletzungen alles abperlt, macht er sich durch seine Aufrichtigkeit und seine bedingungslos vorgetragene Leidenschaft unmöglich. Obwohl er bisweilen zu Recht mit einem Ochsen verglichen wird, ist dieser Robert, der en passant die Verlogenheit seiner eigenen Dating Show entlarvt, indes nicht würdelos. Umringt von Leuten, die im Gegensatz zu einer – allmählich und viel zu plötzlich – im Wandel begriffenen Stadt in ihren Lebensentwürfen erstarrt sind, wagt er als einzige Figur etwas wirklich Verwegenes: Er träumt. Von einem „Leben mit Stierläufen und Sprüngen von Klippen, die bis in den Himmel ragen“. Von einer intensiveren, erfüllten Existenz. Von Lady Brett und den immergleichen zwei, vielleicht drei gemeinsamen Nächten im Festivalzelt. Wie Gatsby, der sich wiederholt in der Betrachtung des Mondes oder des grünen Lichtes bei Daisys Anwesen verliert, besitzt Robert – anders als Brett, Jake oder gar Mike – die Fähigkeit zu träumen. Zwar mündet seine wirklichkeitsferne Haltung am Ende beinahe in eine Katastrophe, niemand wird sich nach der Fiesta so verändert haben wie dieser postmoderne Parzival. Aber immerhin hat sein Leben, wie es uns das Stück unter dem Vergrößerungsglas präsentiert, einen Inhalt. Dies verbindet ihn im Übrigen mit der ebenfalls ortsfremden Georgette, die weiter ihre Lieder singen, und mit Bill, der aus dem Fiesta-Urlaub zu seiner Familie und an seinen Schreibtisch zurückkehren wird.
In jenem Abschnitt des Alten Testaments, dem Hemingway den Romantitel entnommen hat, heißt es: „[Es gibt] eine Frist fürs Suchen und eine Frist fürs Verlorengeben [...], eine Frist fürs Lieben und eine Frist fürs Hassen“. Gatsby und Robert sind Suchende, die sich in ihrer Suche verlieren, weil sie ihren Traum nicht verloren geben können. Sie lieben ohne Rücksicht auf Verluste. Jay Gatsby wird erschossen, bevor seine Liebe in Hass umschlagen kann, Roberts Zukunft verläuft im Ungewissen.
Was bleibt, ist der schwache Schimmer eines grünen Lichtes auf der Wasseroberfläche: „The Sun Also Rises in Berlin“ transponiert nicht bloß Hemingways „Lost Generation“-Epos in die Gegenwart. Zugleich knüpft das Stück beim Romantiker Fitzgerald an und rückt Robert, den bayrischen Skilehrer, in die Nähe des mondsüchtigen Träumers von Long Island. Zweifellos ist er kein „größerer Gatsby“; der Schatten des Originals gleicht in dieser Hinsicht dem der Zugspitze. Doch schon ein „kleiner Gatsby“ aus Garmisch wäre ja nicht zu verachten. „Niemals stehen bleiben oder rückwärts laufen!“ ruft Robert am Anfang des Stücks – und insgeheim hofft man, dass er sich diese Devise bewahren möge, sogar in Berlin.
Vgl.: James Plath: „‚Isn’t it pretty to think so?’ ‚The Sun Also Rises’ as a ‚Greater Gatsby’”, in: J. Gerald Kennedy u. Jackson R. Bryer (Hg.): ‚French Connections. Hemingway and Fitzgerald Abroad’, New York 1999.